Gymnasium Oberursel

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Von Breslau nach Istanbul – und zurück nach Oberstedten

Ingrid Oppermann berichtete am Gymnasium über die Emigration ihres Vaters, des
Astronomie-Professors Wolfgang Gleissberg, in die Türkei.

Als sog. „Vierteljude“ war der Mathematiker und Astronomie-Professor Wolfgang Gleissberg ab
dem 1. September 1933 in Breslau nicht mehr lehrberechtigt und folgte deshalb wie 150 andere
verfolgte deutsche Wissenschaftler 1933/34 dem Ruf Atatürks an die Universität Istanbul, wo er
bis 1958 lehrte und das Astronomische Institut und die Sternwarte aufbaute. In der Stadt am
Bosporus kam auch seine Tochter Ingrid (*1938) zur Welt und verbrachte dort ihre Kindheit und
Jugend. Jetzt berichtete sie vor dem Leistungskurs „Politik und Wirtschaft Q1“ von Jutta Niesel-
Heinrichs von den Erfahrungen ihrer Familie in der Emigration und dem wissenschaftlichen
Werdegang ihres Vaters, der ab 1958 bis zu seiner Emeritierung als Institutsleiter des
Astronomischen Instituts der Universität Frankfurt wirkte und bis zu seinem Tod (1986) in
Oberstedten wohnte. Das Zeitzeugengespräch kam auf Vermittlung von Lokalhistorikerin
Angelika Rieber zustande.

Vorlesungen auf Türkisch und Aufbau der Sternwarte

Für den Wissenschaftler und evangelischen Christen Gleissberg war es ein glücklicher Umstand,
dass der türkische Staatschef Mustafa Kemal, genannt Atatürk, 1933 gerade nach renommierten
Wissenschaftlern in der Schweiz suchte, die die Universität Istanbul reformieren sollten. Statt
Schweizern kamen mithilfe der Notgemeinschaft entlassener Wissenschaftler Deutsche, die
fortan die Studenten unterrichteten und Lehrbücher verfassten. Dafür mussten sie innerhalb von
zwei Jahren Türkisch lernen. Der Astrophysiker Gleissberg hielt bereits nach 10 Monaten seine
Vorlesungen auf Türkisch, und er baute zusammen mit Erwin Freundlich, ebenfalls Emigrant aus
Deutschland, die Istanbuler Sternwarte auf, in der es heute noch einen Gleissberg-Saal und viele
Fotos von ihm gibt, berichtete Oppermann. 1935 sei die Sternwarte fertig gewesen, ausgestattet
mit vielen hochwertigen deutschen Instrumenten. Die Lehrbücher ihres Vaters würden noch
immer benutzt, und die wissenschaftlichen Begriffe, die er als Nicht-Türke in eine
Sprachkommission eingebracht habe, hätten Eingang in die türkische Sprache gefunden. 1981
erhielt Professor Wolfgang Gleissberg die Ehrenwürde der Universität Istanbul, wo er sich
zuletzt auf die Sonnenforschung konzentrierte und den „Gleissberg-Zyklus“ entdeckte.

Türkisch geprägte Kindheit und Jugend in einer kosmopolitischen Stadt

1934 konnte Wolfgang Gleissbergs Verlobte Charlotte Michael nach Istanbul nachkommen. Dort
heiratete das Paar im Deutschen Generalkonsulat, denn der regimetreue deutsche evangelische
Pfarrer verweigerte die kirchliche Trauung wegen des fehlenden „Ariernachweises“. In Istanbul
lebte die Familie in einem rein türkischen Viertel nahe dem Galater-Turm, wo die kleine Ingrid
eine türkische Grundschule besuchte. „Ich habe mich nie als Fremde gefühlt und wie die anderen
vor der türkischen Fahne stramm gestanden und die türkische Nationalhymne gesungen“,
berichtet Oppermann, die in der türkischen Sprache mehr als zu Hause ist und jedes Jahr Istanbul
besucht. Ab 1947 sei sie in die österreichische St. Georgenschule gegangen, nur im letzten Jahr

vor dem Abitur auf die neu zugelassene Deutsche Schule Istanbul. Erst im Februar 1945 hatte
die vorher neutrale Türkei dem Deutschen Reich den Krieg erklärt. In der Folge sei es zu
Ausweisungen und Internierungen von Deutschen in der Türkei gekommen, erinnert sich
Oppermann. „Alle deutschen Professoren mit einem >J< im Pass durften jedoch in Istanbul
bleiben.“ Ingrid Oppermann hat die Türkei als traditionell sehr judenfreundlich erlebt; dies gehe
auf die Aufnahme von aus Spanien Ende des 15. Jahrhunderts vertriebenen Juden zurück. Davon
profierte auch die Familie, obwohl die Gleissbergs ja eigentlich evangelische Christen waren.
Der Vater habe in Istanbul sogar evangelische Gottesdienste gehalten und Trauungen und
Beerdigungen durchgeführt. Über das Schicksal der Verwandten in Deutschland habe Familie
Oppermann ab 1947 nach und nach erfahren. 1952 traf Ingrid erstmals ihre Großmutter, die in
Breslau in einem Ursulinen-Kloster überlebt hatte. Ihr Onkel, der Journalist und Theaterkritiker
Gerhard Gleissberg, sei über die Tschechoslowakei und Ägypten nach England ausgewandert.
Nicht alle jedoch hätten die NS-Zeit überlebt.
Nach dem Abitur ging die Tochter 1957 zum Studium nach Hamburg und traf so ein Jahr vor
ihren Eltern wieder in Deutschland ein. Erst dort habe sie sich zusammen mit ihren
Kommilitonen im Studentenheim wirklich über Auschwitz und die Konzentrationslager
informieren können. Als Lehramtsstudentin in Hamburg habe sie sich wohl gefühlt, aber stets
gefroren und „immer Heimweh nach Istanbul“ gehabt.

Wieder Professor in Deutschland – Wohnort: Oberstedten

Wolfgang Gleissberg kehrte 1958 nach 25 Jahren Emigration nach Deutschland zurück und
wurde Professor an der Naturwissenschaftlichen Fakultät der Frankfurter Goethe-Universität.
Einen Ruf an die Ost-Berliner Humboldt-Universität hatte er 1947 abgelehnt. Als Institutsleiter
des Astronomischen Instituts, erinnert sich die Tochter, hielt der Vater stets den Kontakt nach
Istanbul. Ihr Vater sei ein engagierter und humorvoller Hochschullehrer gewesen, der auch gern
populärwissenschaftliche Vorträge wie „Ist im Weltraum Platz für Gott?“ gehalten habe.
Politisch sei er erklärter Anti-Militarist gewesen und habe sich gegen die deutsche
Wiederbewaffnung ausgesprochen. Adenauer habe er abgelehnt, da er ihn für die deutsche
Teilung verantwortlich machte. Wolfgang Gleissberg war Sozialdemokrat und engagierte sich
auch in der Kommunalpolitik im Gemeinderatsvorstand von Oberstedten. 1966 aber trat er
wegen der großen Koalition aus der SPD aus. Familie Gleissberg war 1958 nach Oberstedten in
den Buchenweg gezogen, als das Eichwäldchen noch nicht erschlossen und Oberstedten noch
sehr ländlich war. „Der Weg zur Straßenbahn war sehr schlammig.“ Die Mutter sei zunächst
recht einsam gewesen, habe sich mit dem Garten getröstet, erinnert sich die Tochter.

Erinnerung an Atatürks Reformen

Im Gespräch mit dem aufmerksamen Oberstufenkurs lobt Oppermann, die in Bad Liebenzell
lebt, die Modernisierungsanstrengungen in der 1923 entstandenen türkischen Republik:
Staatsgründer Atatürk habe die arabische Schrift und den Fez abgeschafft und die Religion aus
dem öffentlichen Leben zurückgedrängt. Stattdessen habe er die Schulpflicht für Jungen und
Mädchen und die Gleichberechtigung der Frau eingeführt. Gefragt nach der Politik Erdogans,
antwortet Ingrid Oppermann: „Die weltliche Atatürk-Generation hält nichts davon.“ So endete
das lebhafte Gespräch mit der Zeitzeugin, die die politische bedingte Emigration ihrer Familie
sehr mitreißend schilderte, mit politischen Fragen der Gegenwart.
Jutta Niesel-Heinrichs




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