„Das Erinnern an die Opfer hat Bedeutung für uns“ – Lesung im Gymnasium: Lokalhistorikerin Angelika Rieber stellte Schülern die bewegenden Lebensläufe ehemaliger Oberurseler vor
Am 5. Oktober las die Lokalhistorikerin Angelika Rieber in der Rotunde des Gymnasiums Oberursel vor Schülerinnen und Schülern der Jahrgangsstufe Q3 aus ihrem neuen Buch „Haltet mich in gutem Gedenken" und ließ dabei die bewegenden Biografien als Juden verfolgter und ermordeter ehemaliger Oberurseler lebendig werden. Als Zeitzeugen der Kriegs- und Nachkriegszeit und ehemalige Schüler des Gymnasiums nahmen Pfarrer a.D. Manfred Kopp und Stadtverordnetenvorsteher Dr. Christoph Müllerleile ebenfalls an dieser Veranstaltung teil.
Rieber, die seit 30 Jahren über jüdische Geschichte in Oberursel und Frankfurt forscht, nutzte bei ihrer Lesung auch Fotografien, Briefe, Tagebucheinträge und andere Alltagsquellen, um den Jugendlichen das Leben und die Verfolgung der Porträtierten näherzubringen. So lernten sie etwa Irene Kahn kennen, deren Doktorarbeit 1936 abgewiesen und die wegen Kontakten zur linken Partei SAP verhaftet wurde und 1942 in Ravensbrück starb. Die systematische Zerstörung der Lebensgrundlagen wurde verstärkt ab 1938 deutlich, als bei der sogenannten „Reichskristallnacht“ auch in Oberursel Geschäfte und Wohnungen demoliert und einst geachtete Mitbürger nach Buchenwald deportiert wurden, berichtete Rieber und verwies u.a. auf Eugen Rothschild aus der Erzbergerstraße (in der NS-Zeit in Herzbergstraße umbenannt), der ein Opfer des Novemberpogroms wurde. Nachbarn hätten später darüber berichtet, dass „Onkel Rothschild“ „wie ein Stück Vieh“ von jugendlichen Gewalttätern aus seiner Wohnung gejagt wurde, dass dabei das WC und Scheiben zerschlagen wurden und sogar ein Aquarium aus dem Fenster fiel. „Als Zuckerkranker hatte Rothschild in Buchenwald keine Überlebenschance“, erklärte die Autorin.
Auch das Schicksal der Familie Feinberg-Heilbronn, die im Malerwinkel am Marktplatz wohnte, bewegte die Zuhörer. Rieber stellte die Leidenswege der Familienmitglieder vor, darunter Rosa Feinberg, von der die Gedichtzeile „Oh, Orschel, du mein Heimatort, wie lieb ich dich so sehr“ stammt. Rosa wurde zusammen mit ihrer Schwester Theresa Heilbronn im August 1942, beobachtet von vielen Nachbarn, zur Deportation abgeholt. Beide Schwestern seien mit einem Leiterwagen zum Oberurseler Bahnhof gezogen. „Dieser Abschied hat sich tief in das Gedächtnis der Oberurseler eingebrannt“, erläuterte Rieber. Rosa sei wenig später in Theresienstadt, Therese in Treblinka gestorben. „Das Hab‘ und Gut der Familie wurde versteigert.“ Bertha Röder, die Riebers Buch den Titel gab, wurde 1943 verhaftet und kurz darauf nach Auschwitz deportiert. „Behaltet mich in gutem Gedenken“, schrieb sie ihren Kindern im Abschiedsbrief.
Dieses Gedenken an die Opfer wachzuhalten, sei auch heute noch eine wichtige Aufgabe, befand Rieber in ihrem Vortrag an die Jugendlichen. Auch die Gewalttätigkeiten dürften nicht vergessen werden. „Ja, es gab auch in Oberursel Denunziationen.“ Das Opferdenkmal an der Hospitalkirche, das am 18. November vollendet werde, sei deswegen von großer Bedeutung.
Dem pflichteten Pfarrer a.D. Kopp und Dr. Christoph Müllerleile als ehemalige Schüler und Zeitzeugen der Kriegs- und Nachkriegszeit und Fachbereichsleiter Jens Frowerk, der die Veranstaltung moderierte, uneingeschränkt bei. Die Vergangenheit brauche Aufarbeitung, wie in den vergangenen Jahrzehnten geschehen, so auch von den heutigen Generationen, betonten Kopp und Müllerleile, die zusammen mit Angelika Rieber auch an der Festschrift „100 Jahre Gymnasium Oberursel“ mitgeschrieben hatten.
In der sich anschließenden Diskussion gab es sowohl Nachfragen nach den Lebenswegen der Opfer, den Tätern und Tatorten als auch nach den Motiven und der konkreten Arbeitsweise der Historikerin. Die Namen der Täter nenne sie in der Regel nicht, bekannte Rieber. „Es ist wichtiger, über die Tat nachzudenken.“ Rieber betonte auch, wie bedeutsam es sei, noch verfügbare Quellen aus dem Oberurseler Leben, auch Alltagszeugnisse, den Archiven und damit der Forschung zur Verfügung zu stellen. „Fundstücke sichern, die Erinnerung wachhalten und die richtigen Fragen stellen“, fasste Fachbereichsleiter Jens Frowerk in seinen Dankesworten an Angelika Rieber und die Zeitzeugen die Botschaft der Lesung zusammen. (nlh)
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