Lebhaftes Zeitzeugengespräch mit Ingrid Oppermann - „Den Fremden als Menschen sehen“ als Lehre aus der Emigrationszeit in der Türkei (Fotos)
Lebendige Geschichte, darum sollte es im Zeitzeugengespräch am 17. November 2016 in der Rotunde des Gymnasium Oberursels gehen. Den Schülerinnen und Schülern der Jahrgangsstufen Q1 und Q3 wurde jedoch weitaus mehr geboten. Neben einem gut strukturierten und kurzweiligen Vortrag suchte Zeitzeugin Ingrid Oppermann, die infolge der Emigration ihrer Eltern 1938 in der Türkei geboren wurde, den Dialog mit dem jungen Publikum, welches dem Vortrag interessiert folgte und zahlreiche Fragen zur NS-Zeit, zum Leben am Bosporus in den 40 er Jahren und zur aktuellen Situation in der Türkei stellte.
Zum zweiten Mal seit 2014 besuchte Ingrid Oppermann, Tochter des von den Nationalsozialisten in die Türkei vertriebenen Physikers und Astronomen Prof. Dr. Wolfgang Gleissberg, das Gymnasium Oberursel, um vor Schülerinnen und Schülern der Oberstufe zu sprechen. Die diesjährige Begegnung fand im Rahmen der „Interkulturellen Woche“ Frankfurt und in Zusammenarbeit mit dem „Projekt Jüdisches Leben in Frankfurt“ und mit Unterstützung der Hessischen Landeszentrale für Politische Bildung statt.
Herzlich wurde Frau Oppermann von der Sprecherin des Faches Geschichte, Yvonne Pickmann, und der schulischen Organisatorin der Veranstaltung, Jutta Niesel-Heinrichs, empfangen. Die vier teilnehmenden Geschichtskurse hatten zuvor zwar schon einiges über den Nationalsozialismus gehört, doch eine solch hautnahe und facettenreiche Schilderung der Lebensumstände der als Juden verfolgten Deutschen seit der Entlassungswelle 1933 gehörte sicherlich nicht zum Standardwissen der angehenden Abiturienten. Insbesondere die Emigration vieler deutsch-jüdischer Wissenschaftler in die Türkei Atatürks war vielen unbekannt.
Am Beispiel ihrer eigenen Familiengeschichte gelang es der 78 jährigen Ingrid Oppermann mit viel Esprit und Charme einen geschichtlichen und interkulturellen Bogen von der Machtergreifung Hitlers im Jahr 1933, über die Herrschaft Atatürks und bis hin zur Regierung Erdogan zu spannen. Innerhalb von 90 Minuten konnte das aufmerksame Publikum nicht nur sein Basiswissen zum Thema „Rassenlehre im NS-Regime“ oder zu den vielfältigen Schikanen gegenüber deutschstämmigen Juden im Dritten Reich vertiefen, sondern erhielt zudem einen Abriss der Geschichte der Türkischen Republik seit der Begründung durch den „Vater der Türken“, Mustafa Kemal Pascha (Atatürk). Sehr einfühlsam und schülernah kontrastierte die erfahrene und weltgewandte Pädagogin Oppermann die Vorzüge, aber auch einige Schattenseiten des Regimes Atatürk und die idyllischen Kindheitserinnerungen eines deutschen Mädchens, das im weltoffenen und toleranten Istanbul der 40er Jahre gut integriert aufwachsen und die türkische Sprache wie eine Muttersprache erlernen konnte. So erlebte die Zeitzeugin damals am eigenen Leib, dass es „egal“ gewesen sei, woher man kam. Auch als einziges hellblondes und blauäugiges Kind in ihrem rein türkischen Wohnviertel habe sie sich nie unwillkommen oder gar ausgegrenzt gefühlt.
Der Schilderung der Laufbahn des Vaters, des bekannten Breslauer Professors Wolfgang Gleissberg, der wie rund 1 000 seiner Landsleute in die Türkei einreisen durfte, um dort sein Fach, die Astronomie, an der neugegründeten Universität in Istanbul zu lehren und schließlich Leiter der Istanbuler Sternwarte zu werden, bis er 1958 nach Deutschland und damit nach Frankfurt und Oberursel zurückkehrte, folgten eindrucksvolle Szenenbeschreibungen aus dem türkischen Alltag und der Nachkriegszeit in Deutschland.
So wird vielen die Anekdote über die Mutter in Erinnerung bleiben, die beim autodidaktischen Lernen der türkischen Sprache so manchen „Strumpf“(Türk.: çorap) statt der Suppe (Türk.: çorba) im Restaurant bestellte.
Jedoch schilderte Ingrid Oppermann auch sehr nachdenkliche Szenen wie die Verweigerung der Trauung der Eltern oder der eigenen Taufe durch den NS-treuen deutschen Pfarrer in Istanbul mangels „Ariernachweis“ oder die kuriose Einberufung Gleissbergs und anderer zwangsweise emigrierter Wissenschaftler zum Wehrdienst durch das ferne Heimatland. Auch ihre Eindrücke, Gefühle und Gedanken bei der Rückkehr nach Deutschland, die späten Informationen über den Verbleib der Breslauer Verwandten und die schwierige Aufarbeitung des Holocaust bewegten alle Anwesenden.
Als versierter Pädagogin und Musikerin gelang es Frau Oppermann bei ihren Ausführungen immer Zeitmaß zu halten und den Zeitgeist im Blick zu haben, sodass die Jugendlichen ihr gebannt und höchst konzentriert folgten. Die abschließende Gesprächsrunden umfassten dabei Themen wie die Erfahrungen bei der Rückkehr nach Deutschland, den Kontrast der Lebensorte Hamburg, Oberstedten und Istanbul, die Wiedergutmachungsfrage, den modernen türkischen Staat unter Atatürk oder die aktuelle Islamisierungs- und Ausgrenzungspolitik des Erdogan-Regimes. Die Erfahrungen in der jungen Türkischen Republik haben offenkundig Ingrid Oppermanns Menschenbild bis dato nachhaltig geprägt, so dass sie den Schülerinnen und Schülern am Ende des Gesprächs empfahl: „Man muss den fremden Menschen als Menschen sehen, seine Sitten, Gebräuche und Traditionen achten und offen bleiben für den Austausch. Erst dann kann Gemeinschaft funktionieren.“
Insgesamt empfanden sowohl die Jugendlichen als auch die Lehrkräfte das Zeitzeugengespräch als enorm informativ und anregend. Besonders die Hintergründe zur deutsch-türkischen Geschichte, die „leider“ nicht zum Kanon des Lehrplans gehören, werden , so Moritz Scheele (Q3), wohl noch lange im Gedächtnis bleiben. Die Schülerinnen und Schüler begrüßten deshalb ausdrücklich das Engagement der Lokalhistorikerin Angelika Rieber, die die Zeitzeugin an das GO vermittelt hatte. Solche Begegnungen seien sehr wertvoll und brächten „Eindrücke aus erster Hand und echtes Leben in die Geschichtsdarstellung“, urteilte Mira Schwarzer (Q1).
Nach Ansicht von Leistungskursschüler Bedirhan Arslan (Q1) ist es Ingrid Oppermann gelungen, einen anderen Blickwinkel auf die Vergangenheit zu vermitteln. Durch ihre sympathische und offene Art habe sie zudem die junge deutsche und türkische Generation zum Nachdenken über gemeinsame Werte gebracht und gezeigt, wie wichtig es sei, weltoffen zu sein - und zu bleiben. (ber)
Jutta Niesel-Heinrichs (Pressesprecherin) Volker Räuber (Schulleiter)
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