Flucht aus dem NS-Staat in die Türkei – Zeitzeugin Ingrid Oppermann ließ die deutsche und die türkische Geschichte lebendig werden
Beim Zeitzeugengespräch am 17. November 2017 in der Rotunde des Gymnasium Oberursels erzählte Ingrid Oppermann Schülerinnen und Schülern der Jahrgangsstufen Q1 und Q3 von der Emigration ihrer Familie aus dem NS-Staat in die Türkei Atatürks, wo ihr Vater Wolfgang Gleissberg als Professor für Astronomie an der Universität Istanbul wirkte. Nach ihrem facettenreichen und kurzweiligen Vortrag, der auch die Rückkehr in das Deutschland der Nachkriegszeit beinhaltete, suchte die Zeitzeugin den Dialog mit dem jungen Publikum, das viele Fragen stellte.
Zum dritten Mal seit 2014 besuchte Ingrid Oppermann damit im Rahmen der Interkulturellen Woche, in der das „Projekt Jüdisches Leben in Frankfurt“ mehrere Gespräche mit Ingrid Oppermann in Schulen organisiert, das Gymnasium Oberursel. Vermittelt wurde die Veranstaltung von der Lokalhistorikerin Angelika Rieber. Die Organisation und Moderation übernahm Geschichtslehrerin und Fachsprecherin Yvonne Pickmann.
Im Hitler-Regime 1933 als „Vierteljude“ der Lehrtätigkeit als „unwert“ empfunden und von der Universität Breslau verwiesen, emigrierte der evangelische Physik- und Astronomieprofessor Wolfgang Gleissberg ebenso wie andere deutsch-jüdische Wissenschaftler sowie politische Verfolgte, vermittelt über eine Wissenschaftler-Notgemeinschaft aus der Schweiz, in die Türkei, wo das Regime Atatürk gerade die Universitäten Istanbul und Ankara aufbaute. Gleissberg übernahm in Istanbul eine Professur, erlernte in Windeseile die türkische Sprache und war fortan in vielfältiger Hinsicht in Forschung und Lehre tätig. Viele Lehrbücher und Räumlichkeiten der Universität tragen noch heute seinen Namen. Gleisberg baute außerdem zusammen mit Professor Freundlich die Istanbuler Sternwarte auf und leitete diese. 1934 folgte ihm seine Verlobte ins Exil, wo im Jahr 1938 Tochter Ingrid geboren wurde.
Das deutsche Mädchen wuchs im weltoffenen und toleranten Istanbul der späten 30er/ 40er Jahre gut integriert in einem rein türkischen Viertel auf, besuchte dort die Grundschule und erlernte die türkische Sprache wie eine Muttersprache. Wie die Zeitzeugin betonte, war es in ihrer Umgebung und in Emigrantenkreisen damals egal, woher jemand kam. Als einziges hellblondes, blauäugiges Kind in ihrem Viertel habe sie sich nie ausgegrenzt gefühlt, berichtete sie und lobte die türkische Gastfreundschaft.
Genau wie ihre Mitschüler ehrte sie damals den „Vater der Türken“, Mustafa Kemal Pascha (Atatürk), der es über 250 Wissenschaftlern und ihren Familien ermöglichte, in die Türkei einzureisen und dort in ihrem Fach an der Universität zu arbeiten und zu lehren. Sie fanden dort ein würdiges Leben und Schutz vor dem NS-Staat. Das sei eine beispiellose Tat gewesen. Oppermann berichtete anerkennend von Atatürks Reformen, der strengen Trennung von Staat und Religion, den Bildungsanstrengungen und Modernisierungen wie dem Verbot von Kopftuch, Fez und Pluderhose im öffentlichen Raum. Ingrid selbst besuchte nach der Grundschule eine österreichische Schule, zu der sie noch heute Kontakt hält, und legte anschließend an der Deutschen Schule Istanbul ihr Abitur ab.
Auch nachdenkliche Szenen wie die Verweigerung der Trauung der Eltern oder der eigenen Taufe seitens des zuständigen regimetreuen Pfarrers sprach Oppermann an. Denn natürlich fehlte der Familie der sog. „Ariernachweis“. Vom Schicksal der Verwandten erfuhr die Familie erst nach dem Krieg. So konnte sich Gleisbergs Mutter in Breslau verstecken, während andere Familienmitglieder ermordet wurden.
Der gelernten Pädagogin gelang ein sehr anschaulicher und kurzweiliger Vortrag, mit dem sie das junge Publikum in Bann zog. Bei der abschießenden Gesprächsrunde vertiefte sie die Erfahrungen der Familie nach der Rückkehr nach Deutschland, wo Vater Gleisberg als „Wiedergutmachung“ eine Professur an der Frankfurter Goethe Universität erhielt. Das Leben in Oberstedten erwies sich als großer Kontrast zum quirligen Istanbul. Das Eichwäldchen war gerade im Entstehen begriffen und hatte noch keine richtigen Straßen. Dem Vater fiel es leichter sich wiedereinzuleben als der Mutter, erfuhren die Jugendlichen. Gleisberg engagierte sich sogar politisch, trat der SPD bei und wurde Ortsvorsteher in Oberstedten. 1966 jedoch, als die Große Koalition von CDU und SPD gebildet wurde, kehrte der Adenauer-Gegner der Politik den Rücken. Gleisberg starb 1986 in Oberstedten und ist auf dem Waldfriedhof begraben.
Einhellig empfanden die Schülerinnen und Schüler das Zeitzeugengespräch als informativ und enorm anregend. Einmal „echte Eindrücke aus erster Hand in Bezug zur Geschichtsdarstellung zu setzen“, empfand etwa Lennard (Q1) als bereichernd. Besonders auch die Antwort der Zeitzeugin auf die Frage von Laura (Q3) nach ihrer deutschen oder türkischen Zugehörigkeit hallte nach. Sie verstehe sich nicht als Deutsche oder als Türkin, sondern als Mensch, bekannte Oppermann.
Die Erfahrungen in der jungen Türkischen Republik haben ganz offensichtlich Ingrid Oppermanns Menschenbild nachhaltig geprägt, so dass sie den Schülerinnen und Schülern am Ende des Gesprächs empfahl, den fremden Menschen als Menschen zu sehen und Religion oder Nationalität keine Bedeutung bei der Beurteilung des Charakters eines Menschen beizumessen. Eine Erkenntnis, die in der heutigen Zeit oft vernachlässigt wird, jedoch von den Schülerinnen und Schülern des Gymnasiums Oberursel dank dieser herausragenden Zeitzeugin sicherlich verstanden wurde. (ber/nlh)
Jutta Niesel-Heinrichs (Pressesprecherin) Volker Räuber (Schulleiter)
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