Die Theater AG „Irre-Parabel“ spielte „Ein Haufen Lügen“ von Hugh Whitemore
Zwischen Freundschaft und Staatsräson
In Hugh Whitemores Stück „Ein Haufen Lügen“ von 1983, das die Theater AG des GO am 16., 17. und 19. April in der Rotunde aufführte, wird die Londoner Familie Jackson in einen schwierigen Loyalitätskonflikt geführt: Wie weit darf Freundschaft gehen, wenn die staatsbürgerliche Pflicht ruft, weil der Staat bedroht ist?
Es ist die Zeit des Kalten Krieges. Mutter Barbara und Vater Bob Jackson leben in den 60 er Jahren mit ihrer halbwüchsigen Tochter Julie im beschaulichen Vorort Ruislip, „very british“, wie schon das von Willibald Lindenthal, Karl-Heinz Vogt und Edzard Reul treffend ausgestaltete Bühnenbild verrät, königstreu und traditionsbewusst. In diese Mittelstandsidylle bricht eines Tages die hohe Politik in Person von Mr. Stewart vom MI 5 ein. Bei der Verfolgung eines russischen Top-Spions soll das Zuhause der Familie als Spähbasis dienen. Davon, dass auch das mit den Jacksons befreundete Ehepaar, Helen und Peter Kroger, im Visier des Staatsschutzes steht, erfahren die ahnungslosen Jacksons zunächst jedoch nichts. Und so nimmt das Gefühlschaos der Familie Fahrt auf. Am Ende ist der Fall gelöst, und die Freundschaft tot. War es das wert? Oder war das Geschehen unvermeidlich?
Gerade Mutter Barbara Jackson (sehr einfühlsam, textsicher und mit erstaunlichem mimischen Repertoire dargestellt von Amelie Jung) leidet unter den Heimlichkeiten und Lügen, die sich nun zwangsläufig in den Alltag einschleichen. So muss Barbara auch ihre quicklebendige Freundin Helen Kroger (köstlich in ihrer Schrägheit und Doppeldeutigkeit dargestellt von Mia Micksch), die sich rührend um sie kümmert, hintergehen. In die vermeintlich ungetrübte Freundschaft brechen jetzt Misstrauen und Lügen ein, denn die Operationen der Spionageabwehr im Haus der Jacksons erfolgen selbstverständlich „streng vertraulich“. Schon bald wird klar: Auch die Krogers sind und machen sich verdächtig. „Fairness ist momentan zweitrangig“, versichert deshalb Mr. Stewart vom Staatsschutz (überzeugend dargestellt von Mira Schwarzer) und bittet um Verständnis.
Dem aus Staatsräson Notwendigen muss sich die Familie samt der pubertären Tochter Julie (Jara Müller-Kästner traf genau den Ton der motzig-rebellischen Halbwüchsigen) beugen. Das findet auch der einsichtige Familienvater und Flugzeugingenieur Bob, selbst wenn es ihm schwerfällt und das Zusammenleben mit den Überwachungsoffizieren Thelma und Sally (sehr authentisch gespielt von Sophie Fedler, Annabell Dreyer) höchst störend ist. Dass Ehefrau Barbara mehr und mehr an diesem Konflikt zerbricht, belastet Bob allerdings stark (Katharina von Recum meisterte den schwierigen, weil leisen Part sehr treffend).
So beugt sich die Familie dem Zwang und leidet unter der Lügerei und der Zersetzung der zuvor so unverbrüchlich erschienenen Freundschaft mit den Krogers. Am Ende bestätigt sich der Verdacht, und die vermeintlichen Freunde aus „Kanada“ werden zusammen mit dem gesuchten Top-Spion Lonsdale als versierte russische Agenten verhaftet. Die überzeugten Kommunisten (bewegend: Leonie Ritter als Peter Kroger) haben jahrelang die britische Rüstungsentwicklung ausspioniert. Zurück bleiben eine erschütterte Familienidylle und eine unwiederbringlich zerbrochene Freundschaft. Ein zu hoher Preis? Für Barbara ja, denn neben der Freundin verliert sie auch das Vertrauen der Tochter und den Glauben an die Wahrhaftigkeit.
Ein schwieriges Thema, das die „Irre-Parablen“ gekonnt auf die liebevoll und detailgetreu gestaltete Bühne brachten. Den acht jungen Schauspielerinnen aus der Oberstufe gelang es ausnahmslos den Charakteren Leben zu geben, sodass die Zuschauer von den Nöten und Gewissensbissen der Familie und der Spannung des Geschehens, das unerbittlich seinen Lauf nimmt, ergriffen wurden. Whitemores Stück fußt auf realen Gegebenheiten, auf dem „Portland-Fall“ aus den 60er Jahren, bei dem die Forschungsanstalt der Royal Navy von russischen Agenten ausgespäht wurde, - ein klassischer Fall von Spionage im Kalten Krieg. Hier wie dort kommt es zu Verhaftungen und der Fall wird offiziell gelöst. Von dieser Warte aus also eine Erfolgsgeschichte.
Ganz so einfach macht es Hugh Whitemore seinem Publikum aber nicht. Denn er stellt Helen und Peter Kroger als sympathische Überzeugungstäter dar und prangert am Ende die Aufklärungsarbeit der Spionageabwehr als Lügerei an, die viel privates Leid auslöst.
Kann dieser Fall aber tatsächlich als allgemeine Parabel über menschliche Maskerade gelesen werden? Fakt ist, dass das Netz von Lügen die Beziehungen der Familie vergiftet und die Idylle zerstört. Aber auch Helen und Peter haben ihre „Freunde“ zutiefst hintergangen und sind im objektiven Sinn „Staatsfeinde“ erster Güte. Wer verrät also wen? Und dürfen die Krogers wirklich Fairness erwarten? So lässt das Stück den Zuschauer nachdenklich zurück im Hinblick auf die Frage nach dem Umgang mit der Wahrheit. Wie hätte man selber entschieden? Hätte man mitgespielt?
Das aktuell durch die Skripal-Affäre im englischen Salisbury geschürte Misstrauen gegenüber russischen Spionageaktivitäten legt nahe, dass wohl auch heute sich kaum jemand guten Gewissens der Unterstützung staatlicher Ermittlungsbehörden verweigern würde, selbst wenn die Freundschaft darunter leidet. Oder?
Den „Irre-Parablen“ jedenfalls gebührt ein uneingeschränktes Lob für überzeugende schauspielerische Leistungen und eine grandiose Teamarbeit mit einem professionell agierenden Bühnendienst (Helena Marschall). Das befand auch Fachbereichsleiterin Friederike Pitsch am Premierenabend, die der Aufführung das Prädikat „unbedingt lohnenswert“ verlieh und den Teamleitern Klaus-Dieter Köhler-Goigofski und Timo Vogt herzlich dankte. (nlh)
Jutta Niesel-Heinrichs (Pressesprecherin) Volker Räuber (Schulleiter)
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