„Gegen Vergessen und Verharmlosung“ – Der letzte lebende Staatsanwalt der Auschwitz-Prozesse zu Gast am GO
Am Mittwoch, 03.12.2025, war Dr. Gerhard Wiese, der letzte lebende Staatsanwalt der Auschwitz-Prozesse, zu Gast am Gymnasium Oberursel. Bewegt und höchst konzentriert hörten sich die Schülerinnen und Schüler der Jahrgangsstufen E1, Q1 und Q3 sowie deren Lehrkräfte den knapp einstündigen, brillant formulierten Vortrag des inzwischen 97-jährigen Juristen an, den er trotz seines hohen Alters mit fester Stimme und ohne zu stocken hielt. Im Anschluss stellten die Jugendlichen noch zahlreiche interessierte Fragen. Auf einen Hinweis von Eltern hatten Daniel Beyer und Fabian Raimann die Veranstaltung organisiert.
Nach einer Begrüßung und Würdigung durch Jens Frowerk, Leiter des Fachbereichs II, berichtete Dr. Wiese zunächst von seiner Kindheit und Jugend. Er sei am 26. August 1928 in vierter Generation in Berlin geboren worden. So sei er zu Kriegsbeginn elf Jahre alt gewesen. 1940 sei er durch die so genannte Kinderlandverschickung von seinem Elternhaus getrennt worden, was für ihn ein einschneidendes Erlebnis gewesen sei. Mit 15 Jahren, 1943, sei er zunächst als Luftwaffenhelfer eingezogen und später als Flakhelfer zugeteilt worden.
Im Januar 1945 habe er am Flughafen Tegel den Befehl zur Soldateneingliederung erhalten und er sei an der Panzerfaust ausgebildet worden. Den Zusammenbruch des NS-Regimes in Berlin habe er als chaotische Kampftage ohne direkten Feindkontakt erlebt, so der 97-Jährige. Nachdem im Radio der Tod des Führers gemeldet worden war, der angeblich beim Kampf um die Reichskanzlei gefallen sei, sei seine Stellung aufgelöst worden und man habe die irrtümliche Hoffnung auf die „Entsatzarmee“ im Westen gehabt. Stattdessen sei die Gefangennahme durch die Rote Armee erfolgt, bei der ihm alle Wertgegenstände abgenommen worden seien. In der Kriegsgefangenschaft in der Ulan-Kaserne in Fürstenwalde habe er in einer Fabrik Demontagearbeiten als Reparationsleistungen ausführen müssen. Im August seien dann die Jugendkompanien als „nicht mehr benötigt“ entlassen worden, während die älteren Soldaten deportiert worden seien.
Er sei daraufhin zu seiner Tante nach Berlin zurückgekehrt. Während eines Krankenhausaufenthaltes sei dann eine in der Kriegsgefangenschaft entstandene geschlossene Lungentuberkulose bei ihm diagnostiziert worden. An einer neuen Schule habe er 1947 sein Abitur abgelegt und sei anschließend bis 1948 im Lungensanatorium gewesen. Wegen der Tuberkulose sei ihm dann sein ursprünglicher Berufswunsch als Apotheker verwehrt gewesen.
Aufgrund eines Verwandten, der auch Jurist gewesen sei, habe er sich dann für ein Jura-Studium an der trotz Berlin-Blockade 1948 gegründeten Freien Universität in Berlin entschieden. Durch seine Tätigkeit als studentische Hilfskraft habe er am Aufbau der Universitätsbibliothek mitgeholfen, indem er Buchspenden, zum Beispiel die Bibliothek aus der Wannsee-Villa, abgeholt habe und dabei mit Götz George im Kindesalter zusammengetroffen sei.
Weil es „zu viele Juristen im Osten“ gegeben habe, habe man ihm geraten, sich eine Stelle im Westen zu suchen. Daraufhin sei er 1951 nach Frankfurt gezogen, wo er 1955 sein Erstes und nach dreieinhalb Jahren Referendariat 1959 sein Zweites Staatsexamen abgelegt und 1960 geheiratet habe. Ab demselben Jahr habe er bei den Staatsanwaltschaften Fulda, Offenbach und Hanau als Hilfsassessor gewirkt, bis er ab Februar 1961 bei seiner Wunschstelle, der Staatsanwaltschaft Frankfurt, tätig geworden sei. Bei dieser sei er bis zu seiner Pensionierung als stellvertretender Behördenleiter im Jahr 1993 geblieben.
Weil Dr. Wiese brillant war und zu jung, um an den Verbrechen der Nazis beteiligt gewesen zu sein, wurde er zusammen mit den beiden ebenfalls jungen Staatsanwälten Joachim Kügler und Georg Friedrich Vogel von Generalstaatsanwalt Fritz Bauer ausgewählt, sich ab Sommer 1962 an den Vorbereitungen zu den Frankfurter Auschwitzprozessen zu beteiligen. Bauer hatte diese Prozesse gegen etliche Widerstände ins Rollen bringen können, nachdem der Ulmer Einsatzgruppen-Prozess für Umschwung gesorgt hatten. Bei diesem waren durch Ermittlungen Massenerschießungen aufgedeckt worden. In der Folge wurde zuerst die Zentrale Stelle in Ludwigsburg zur Aufklärung von NS-Verbrechen gegründet. Bei dieser zeigte dann ein ehemaliger Auschwitz-Häftling den SS-Mann Wilhelm Boger, die so genannte „Bestie von Auschwitz“, an. Bauer, der seit 1956 in Frankfurt tätig war, erkannte die Bedeutung von Ermittlungen in diesem Bereich und erreichte mit Hilfe neu aufgefundener SS-Akten, dass die Verfahren in Frankfurt geführt wurden.
Die Ermittlungen zu den Auschwitz-Prozessen seien ohne PC, ohne Kopierer und ohne Internet nicht einfach gewesen, erinnert sich Dr. Wiese. Es seien nur noch wenige Unterlagen vorhanden gewesen, denn die SS habe viele vernichtet und die Russen zahlreiche in ihre Archive mitgenommen, ohne sie für die Prozesse zur Verfügung zu stellen. So sei man hauptsächlich auf Zeugenaussagen, auch aus Österreich oder Polen, angewiesen gewesen. Ein Zeuge aus Wien, der als jüdische Schreibkraft im KZ gearbeitete hatte, habe durch seine Tätigkeit wichtige Informationen liefern können, die anderen Mitgefangenen nicht bekannt gewesen seien. Während Prof. Jan Sehn, ein offizieller Vertreter des polnischen Justizministeriums, in Polen weitere Zeugen habe ausfindig machen können, habe Hermann Langbein in Österreich systematisch ehemalige Häftlinge befragt.
Nach der gerichtlichen Voruntersuchung habe man die 700 Seiten umfassende Anklageschrift gefertigt, berichtete der pensionierte Staatsanwalt. Er selbst habe die Anklageschriften gegen Wilhelm Boger und Oswald Kaduk, einen Rapportführer, verfasst. Da das Bürgerhaus im Gallusviertel, wo der Prozess gegen die 22 Angeklagten hätte stattfinden sollen, nicht rechtzeitig fertiggestellt worden sei, habe man für das Verfahren den Sitzungssaal der Frankfurter Stadtverordneten im Römer für sechs Monate zur Verfügung gestellt bekommen, so Dr. Wiese. Die Prozesse starteten am 20. Dezember 1963. Nachdem Ende des Jahres 1963 zwei der Angeklagten erkrankt und für verhandlungsunfähig erklärt worden seien, habe man ab Januar 1964 gegen 20 Angeklagten weiterverhandelt.
Die Zeugenvernehmung im Prozess sei für viele der Zeugen traumatisch gewesen, weil sie sich die furchtbaren erlebten Ereignisse, die sie verdrängen wollten, wieder ins Gedächtnis hätten rufen müssen. Dadurch habe es viele Unterbrechungen gegeben, so Dr. Wiese. Die Aussagen einiger polnischer und russischer Zeugen, die von Dolmetschern übersetzt wurden, sollten dann im späten Frühjahr 1964 durch eine Ortsbesichtigung in Auschwitz-Birkenau in Bezug auf ihre Plausibilität überprüft werden sollte. Da jedoch der Flug nicht gekommen sei und ein Verfahren nur für maximal zehn Tage unterbrochen werden dürfe, sei für die damals gigantische Summe von 10.000 DM ein privater Flieger von Austria Airlines nach Auschwitz gebucht worden.
Nachdem man vor Ort zweifelhafte Zeugenaussagen habe überprüfen und deren Korrektheit bestätigen können, sei es zurück nach Frankfurt gegangen. Die Überprüfungen seien als bestätigt ins Verfahren aufgenommen und Auschwitz als „Tötungsanlage“ identifiziert worden. Die Forderung der Staatsanwaltschaft habe daraufhin „lebenslang“ für alle Angeklagten gelautet. Sechs von ihnen, darunter Wilhelm Boger und Oswald Kaduk, erhielten am Ende 1965 diesen Schuldspruch, den restlichen wurden hohe Freiheitsstrafen zuteil. Bei Auschwitz-Kommandant Richard Baer, der während der Untersuchungshaft verstarb, verfügte Dr. Wiese eine Obduktion, um einen Mord auszuschließen. Obwohl die Angeklagten bis zum Schluss mit typischen Floskeln alles abgestritten und keine Reue gezeigt hätten, habe man ihnen ihre Schuld anderweitig nachweisen können, berichtete Dr. Wiese. Nachdem 1969 alle Revisionen verworfen worden seien, seien die Urteile rechtskräftig gewesen.
Die bewegendste Zeugenaussage sei für ihn das Schicksal der Familie des jüdischen Arztes Dr. Mauritius Berner gewesen, so der pensionierte Staatsanwalt. Als dieser mit seiner Frau, seinen Zwillingsmädchen und einer weiteren Tochter an der „Selektionsrampe“ in Auschwitz angekommen sei, habe er einen der SS-Offiziere erkannt. Höflich habe der Arzt den SS-Offizier gebeten, mit seiner Familie zusammenbleiben zu dürfen. Daraufhin habe der Offizier dem SS-Lagerarzt Josef Mengele von den Berner-Zwillingen berichtet, da dieser seine menschenverachtende Zwillingsforschung (an eineiigen Zwillingen) betrieb und Versuchsobjekte suchte. Als Mengele aber gehört habe, dass diese zweieiig seien, habe er nur mit einer Handbewegung „Weg!“ befohlen, woraufhin Frau Berner und die drei Mädchen vergast worden seien. Dr. Mauritius Berner habe sich dann als Häftlingsarzt so gut es eben ging um seine Mithäftlinge gekümmert. Nach dieser Aussage habe im Gerichtssaal absolute Stille geherrscht, erinnerte sich Dr. Wiese.
In der anschließenden Fragerunde antwortete Dr. Wiese auf die Fragen aus der Schülerschaft. So hätten viele Angeklagte, die wie normale Bürger gewirkt hätten, nicht bestritten, in Auschwitz gewesen zu sein, hätten aber jede Tatbeteiligung geleugnet, denn sie hätten ja nichts gesehen oder gewusst. Dies sei ein feister Schlag ins Gesicht der Opfer gewesen, denn für sie als Zeugen sei die Leugnung und Aufarbeitung der Beweise emotional höchst belastend gewesen. Auch Oswald Kaduk habe bis zuletzt trotz der ihn schwer belastenden Zeugenaussagen jede Tat bestritten.
Nach Abschluss des Verfahrens hätten die Staatsanwälte geglaubt, dass der gesellschaftliche Umgang mit Auschwitz nun geklärt sei. Leider habe sich das aber später als Irrtum erwiesen. So habe erst 2017 der Bundesgerichtshof die Frankfurter „Einheitstheorie“, dass Auschwitz eine Gesamtanlage der Vernichtung, also quasi eine Tötungsanlage gewesen sei, anerkannt.
In seiner Arbeit an sich sei er nicht von außen behindert oder bedroht worden. Schwierigkeiten habe es eher durch den Arbeitsstil Fritz Bauers gegeben, der „nicht einfach“ gewesen sei.
Auf die Frage nach dem „Warum“ antwortete Dr. Wiese, er spreche heute durch Vorträge in Schulen über die Prozesse, um die deutsche Vergangenheit wachzuhalten und die Schülerinnen und Schüler zur Auseinandersetzung mit der Geschichte anzuregen. Zur weiteren Vertiefung empfahl er den Jugendlichen die Lektüre mehrerer Bücher über die Auschwitz-Prozesse und über Prof. Jan Sehn.
Mit großem Applaus bedankten sich alle Anwesenden am Ende für den bewegenden und eindrücklichen Vortrag. In seinem Schlusswort appellierte Dr. Wiese an die Schülerinnen und Schüler, die Erinnerung an die NS-Verbrechen wachzuhalten und aktiv gegen das Vergessen und die Verharmlosung einzutreten.
Dr. Gerhard Wiese beschäftigte sich auch über die Auschwitz-Prozesse hinaus mit der juristischen Aufarbeitung der NS-Verbrechen. So war er im Jahr 1966 in Ost-Berlin Prozessbeobachter im Verfahren gegen den Lagerarzt Horst Fischer, der schließlich zum Tode verurteilt wurde.
Ab 1971 wirkte Dr. Wiese als Oberstaatsanwalt in Frankfurt am Main. 1989 wurde er zum stellvertretenden Leiter der Staatsanwaltschaft Frankfurt am Main befördert. 1993 stellte Dr. Wiese die Fahndung nach dem NS-Haupttäter Josef Mengele ein, da durch DNA-Analysen dessen Tod in Brasilien, wohin er unerkannt nach der argentinischen Emigration geflüchtet war, sicher nachgewiesen wurde. Dr. Wiese ging 1993 in den Ruhestand.
Seither hält er auf Einladung von Universitäten und Schulen Vorträge zu den Auschwitz-Prozessen. Seine Erinnerungen an diese sind in das Drehbuch für den Spielfilm „Im Labyrinth des Schweigens“ (2014) eingeflossen, bei dessen Deutschland-Premiere Dr. Wiese vom Publikum mit stehenden Ovationen bedacht wurde.
Am 14. November 2017 überreichte Bundesjustizminister Heiko Maas Dr. Gerhard Wiese das Bundesverdienstkreuz am Bande. Damit wurden Dr. Wieses berufliches Wirken im Justizdienst als auch sein ehrenamtliches Engagement in der Erinnerungskultur gewürdigt. Im Juni 2023 erhielt er den Hessischen Verdienstorden. Im letzten Jahr, am 3. Juli 2024, wurde ihm von der Goethe-Universität Frankfurt am Main die Ehrendoktorwürde verliehen. (jun)
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